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Was Demenz uns über die Liebe sagtOverlay E-Book Reader

Was Demenz uns über die Liebe sagt

Nicci Gerrard

E-Book (EPUB)
2021 C. Bertelsmann
320 Seiten
ISBN: 978-3-641-26257-0

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Kurztext / Annotation
Das persönlichste Buch der Bestsellerautorin
Was verlieren wir, wenn wir unsere Erinnerung verlieren? Wie hilflos demente Menschen sind und wie schmerzhaft das auch für deren Angehörige ist, erfuhr die Journalistin und Romanautorin Nicci Gerrard am Schicksal ihres Vaters. Als er nach zehnjährigem Leiden starb, entschloss sie sich, dieses Buch zu schreiben. Wie ein roter Faden durchzieht die bewegende Schilderung ihrer persönlichen Erfahrung diesen Text, der teils Reportage über die medizinischen Zusammenhänge und den unwürdigen Umgang mit den Betroffenen in Kliniken und Heimen, teils philosophische Betrachtung über das Erinnern ist. Die Autorin erlebt in unserer Gesellschaft eine große Gefühlskälte gegenüber den Erkrankten, die nicht mehr selbst für sich einstehen können. Dem setzt sie viele Beispiele entgegen, die Hoffnung machen. Ein in seiner Vielschichtigkeit ganz besonderes Buch, das durch sein Engagement, seine Wärme und Mitmenschlichkeit besticht. Denn Liebe kennt kein Vergessen.

Nicci Gerrard, geboren 1958 in Worcestershire/Shropshire, studierte englische Literatur in Oxford. Sie ist Journalistin und Romanautorin. Zusammen mit Ehemann Sean French schreibt Nicci Gerrard höchst erfolgreiche Kriminalromane und Thriller unter dem Pseudonym Nicci French. Unter ihrem Klarnamen Nicci Gerrard erschienen unter anderem: »Als wir Töchter waren«; »Als er für immer ging«; »Allein aus Freundschaft«; »Das Fenster nach innen«; »Words fail us: Dementia and the Arts«. Sie lebt zusammen mit ihrem Mann in Südengland.

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

Anfänge

»O, der Geist, Geist hat Gebirge, Sturzklippen,
grausig, jäh, von niemandem erlotet ...«

Gerard Manley Hopkins

Im Jahr vor seinem Tod fuhr mein Vater im Sommer mit uns nach Schweden. Da hatte er schon über zehn Jahre lang mit seiner Demenz gelebt, und ganz allmählich - undramatisch, liebenswürdig, klaglos - machte er sich davon, Erinnerungen fielen von ihm ab, Worte blieben aus, er erkannte immer weniger; die große Auflösung ging ihren Gang. Aber in diesem Urlaub war er sehr glücklich. Er besaß eine tiefe Liebe zur Natur, in der er sich zu Hause fühlte; er kannte die Namen heimischer Vögel und Insekten, Wildblumen und Bäume. Ich erinnere mich, wie er mich als kleines Mädchen einmal in den Wald mitnahm, zum Morgenkonzert der Vögel. Wir standen unter dem Blätterdach, mitten im schallenden Gezwitscher, und er brachte mir bei, wie die Misteldrossel sang und wie die Amsel. Zumindest bilde ich mir ein, dass ich mich daran erinnere. Vielleicht erfinde ich die Geschichte auch nur, damit ich sie mir erzählen kann, wenn ich traurig bin.

In Schweden ging mein Vater in den Wald und sammelte Pilze, er besuchte ein fröhliches Krebseessen, bei dem er Aquavit trank und sich einen Blumenkranz aufs weiße Haar setzte. Er saß mit einer Palette Aquarellfarben vor der Wiese, auch wenn es sein Pinsel nie ganz aufs Papier schaffte. Und einmal nahmen wir ihn abends mit in die Sauna - er war immer leidenschaftlich gern in die Sauna gegangen, weil es ihn an die sorglose Zeit erinnerte, die er als junger Mann in Finnland verbracht hatte. Danach halfen wir ihm in den See. Es war ein schöner Abend, über allem lag weiches Dämmerlicht, der Mond schien aufs Wasser vor dem dunklen Hintergrund der Bäume. Ich erinnere mich an die Stille, nur dann und wann plätscherte eine Welle an den Steg.

Mein gebrechlicher alter Vater schwamm ein paar Meter hinaus und fing dann an zu singen. Ich hatte das Lied noch nie gehört, hörte es auch danach nie wieder. Er schwamm in kleinen Kreisen und sang vor sich hin. Dabei sah er ganz vergnügt aus, glücklich sogar, doch gleichzeitig wirkte die Szene furchtbar einsam, als wäre auf der Welt niemand mehr übrig geblieben als mein Vater im Halbdunkel, in der überwältigenden Stille, mit dem See, dem Wald, dem Mond und den am Himmel versprengten Sternen.

Die Ränder des Selbst sind weich, seine Hülle ist dünn und durchlässig. In diesem Moment konnte ich glauben, dass mein Vater eins war mit der Welt, sie strömte in ihn hinein, und er verströmte sich in sie. In diesem wohlwollenden Augenblick existierte sein von den Jahren angeschlagenes, von der Demenz zersplittertes Selbst jenseits von Sprache, Bewusstsein und Angst; es verlor sich in der Vielfalt der Dinge und war gleichzeitig darin geborgen, aufgehoben im unermesslichen Wunder des Lebens.

Oder zumindest sage ich mir das jetzt, drei Jahre später beim Versuch, eine Krankheit zu begreifen, die die Macht hat, das Selbst zu demontieren, eine Krankheit, die wie ein nächtlicher Räuber in das Haus schleicht, das ein Menschenleben lang aufgebaut wurde, um es, hinter den aufgebrochenen Türen feixend, zu verwüsten, auszuplündern und zu schleifen. Im Februar nach dem Schwedenurlaub kam mein Vater wegen schlecht heilender Beingeschwüre ins Krankenhaus. Die Besuchszeiten waren strikt reglementiert, und dann wurde die Station wegen eines Norovirus-Ausbruchs praktisch ganz geschlossen, was bedeutete, dass mein Vater viele Tage lang allein war: Niemand hielt seine Hand, sprach seinen Namen aus, sagte ihm, dass er geliebt wurde. Niemand hielt seine Verbindung zur Welt. Seine Geschwüre heilten, aber ohne sein geliebtes Zuhause, ohne seine vertraute Routine, umgeben nur von Fremden und Maschinen, verlor er bald die Orientierung und das bisschen Kontrolle über sich, das er noch gehabt hatte. Zwischen pflegerischer Versorgung und einfühlsamer Pflege liegt ein tiefer Abgrund, in den mein Vater hinab