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Sprechen lernenOverlay E-Book Reader

Sprechen lernen

Erzählungen | Hilary Mantel

E-Book (EPUB)
2023 Dumont Buchverlag
Auflage: 1. Auflage
160 Seiten
ISBN: 978-3-8321-6071-5

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Kurztext / Annotation
In >Sprechen lernen< folgen wir Hilary Mantels Figuren ins England der Fünfziger- und Sechzigerjahre, betreten abgelegene Dörfer und Schrottplätze, besuchen altmodische Kaufhäuser und Klosterschulen. Es sind diese unscheinbaren, »von rauen Winden und derben Klatschmäulern geplagten Orte«, die zum Schauplatz eben jener Momente werden, die den jungen Protagonisten und Protagonistinnen noch lange in Erinnerung bleiben. Momente, die ihr Leben für immer prägen werden: das Verschwinden des leiblichen Vaters, die neue Identität der Mutter, das plötzliche Verlorengehen und das mühsame Sprechenlernen. Leicht, aber voller Hintersinn und mit gnadenlosem Witz gewährt uns die zweifache Booker-Preisträgerin einen erzählerischen Einblick in die Rätsel ihrer Kindheit und Jugend, ohne sie je in Gänze aufzulösen. »Diese Erzählungen bergen Welten, die so groß sind wie die der längsten Romane Mantels.« THE NEW YORK TIMES BOOK REVIEW

HILARY MANTEL, geboren 1952 in Glossop, gestorben 2022 in Exeter, England, war nach dem Jurastudium in London als Sozialarbeiterin tätig. Für ihre Romane >Wölfe< (2010) und >Falken< (2013) wurde sie jeweils mit dem Booker-Preis, dem wichtigsten britischen Literaturpreis, ausgezeichnet. Bei DuMont erschien außerdem u. a. die Autobiografie >Von Geist und Geistern< (2015) und zuletzt der dritte Band der Tudor-Trilogie >Spiegel und Licht< (2020).

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

King Billy ist ein Gentleman

 

Ich bekomme den Ort nicht aus dem Kopf, an dem ich geboren wurde, direkt außerhalb der sich windenden Tentakel der Stadt. Wir waren zu nahe dran, um ein eigenes Leben zu entwickeln. Es gab eine regelmäßige Zugverbindung - keine von denen, wo du auf der Lauer liegen und genaue Gewohnheiten studieren musstest. Aber wir mochten die Leute aus Manchester nicht. »Städter, untersetzt und voller Tücke«, so sahen wir sie wohl. Wir spotteten über ihren Arbeiterakzent und bemitleideten sie für ihren Körperbau. Meine Mutter, eine stramme Lamarckistin, war überzeugt, dass die in Manchester unverhältnismäßig lange Arme hatten, weil sie seit Generationen an Webstühlen arbeiteten. Bis (aber das war später) eine rosa Siedlung aus dem Boden gestampft und sie zu Hunderten dorthin verpflanzt wurden, wie Bäume, die zu Weihnachten ausgemacht und mit den Wurzeln in kochendes Wasser getaucht werden - nun, bis dahin hatten wir nicht viel mit den Leuten aus der Stadt zu tun. Und doch, wenn Sie mich fragen, ob ich ein Junge vom Land war: Nein, war ich nicht. Unsere Ansammlung Stein und Schiefer, gezeichnet von rauen Winden und derben Klatschmäulern, das war nicht das ländliche England mit Morris-Tanz, gegenseitiger Verbundenheit und gutem altem Ale. Es war ein kaputter, steriler Ort ohne Bäume, wie ein Durchgangslager, mit der gleichen hoffnungslosen Dauerhaftigkeit, die solche Lager anzunehmen pflegen. Der Schnee blieb bis April in den Höhenlagen ringsum liegen.

Wir wohnten oben im Ort, in einem Haus, in dem es meiner Meinung nach spukte. Mein Vater war verschwunden, und vielleicht war es seine Gegenwart, schlaksig und bleich, die unter der Tür durchstrich und dem Terrier die Nackenhaare aufstellte. Von Beruf war er Büroangestellter gewesen. Kreuzworträtsel waren sein Hobby, und ein bisschen Angeln. Er mochte einfache Kartenspiele und seine Zigarettenbilder-Sammlung. An einem stürmischen Märzmorgen um zehn ist er gegangen, hat seine Alben mitgenommen und seinen Tweedmantel. Seine Unterwäsche hat er dagelassen. Meine Mutter hat sie gewaschen und einem Wohltätigkeitsbasar vermacht. Wir haben ihn nicht sehr vermisst, nur die kleinen Melodien, die er auf dem Klavier gespielt hat, wieder und wieder. Wie den Pineapple Rag.

Dann kam der Untermieter. Er war von weiter nördlich, ein Mann mit langen, gedehnten Vokalen, die aus Worten eine große Sache machten, die bei uns schnell durch waren. Er war cholerisch, seine Toleranzschwelle niedrig. Sehr, sehr unberechenbar. Wolltest du wissen, was kam, musstest du ihn sorgfältig beobachten, ganz ruhig und die Intuition geschärft. Als ich älter wurde, begann ich mich für Ornithologie zu interessieren und nutzte die Erfahrung, die ich mit ihm gemacht hatte. Aber das kam später. Im Ort gab es keine Vögel, nur Spatzen und Stare, und eine verrufene Truppe Tauben, die durch die engen Straßen stolzierte.

Der Untermieter zeigte Interesse an mir und holte mich aus dem Haus, um einen Fußball hin und her zu kicken. Aber ich war nicht der Typ dafür, und sosehr ich ihm gefallen wollte, mir fehlte das Talent. Der Ball rutschte mir zwischen den Füßen durch, als wäre er ein kleines Tier, und mein atemloses Husten klang beunruhigend. Schlappschwanz, sagte der Untermieter, sagte es aber mit Angst im Gesicht. Bald schon schien er mich abzuschreiben. Ich hatte das Gefühl, ihm lästig zu sein. Ich ging früh ins Bett, lag wach und lauschte dem Gepolter und Geschrei unten, denn der Untermieter brauchte Streit, genauso wie er sein Frühstück brauchte. Der Terrier fing an zu jaulen und zu kläffen, um den Streithähnen Gesellschaft zu leisten, und später hörte ich meine Mutter nach oben laufen und leise vor sich hin schniefen. Sie wollte den Untermieter nicht gehen lassen, ich wusste, sie hatte ihn sich in den Kopf gesetzt. In seinen Lohntüten brachte er mehr Geld ins Haus, als wir je ge